Der Erlkönig

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Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

DSC_6475Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? —
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? —
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. —

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“

DSC_6472Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? —
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. —

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? —
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. —

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! —

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.

Der Erlkönig zählt zu Johann Wolfgang von Goethes bekanntesten Balladen. Über das Entstehungsjahr gibt es unterschiedliche Angaben: 1778 und 1782.
Zum Erlkönig inspiriert wurde der Dichter laut Wikipedia während seines Aufenthaltes in Jena, weil ein Bauer aus dem nahen Dorf Kunitz mit seinem kranken Kind zum Arzt an der Universität ritt.
Umstritten ist, ob Goethe die Figur des Erlkönigs bewusst einsetzte, oder ob er Johann Gottfried Herders Übersetzungsfehler übernommen hatte. In der dänischen Ursprungsversion heißt die Figur Ellerkonge, was Elfenkönig bedeutet. Herder aber übersetzte Eller als Erle.
Der Erlkönig wird oft als eine Phantasterei des fiebernden Jungen gedeutet, der schließlich seiner Krankheit erliegt. In diesem Interpretationsraster spielt der Übersetzungsfehler keine Rolle. Es ist gleichgültig, ob es sich bei dem Dämon um einen Erlkönig oder einen Elfenkönig handelt.
Es gibt aber auch Deutungen, in denen der Erlkönig als bewusst verwendete Gestalt gewertet wird. Der Grund liegt in dem alten Aberglaube, demzufolge moorigen Erlbrüchen magische, dem Menschen Schaden zufügende Zauberkräfte anhaften. Folglich greift Goethe die mystische Gestalt auf, um auf übergeordnete Kräfte hinzuweisen. Das passt durchaus in das gespaltene Verhältnis des Dichters zum Glauben. „So wenig Zutrauen er zur Kirche entwickelte, so wichtig war ihm die Suche nach den „echten Religionen“ und dem Religiösen schlechthin“, schreibt die Publizistin Ursula Homann.
In modernen Deutungen werden psychoanalytische Aspekte aufgegriffen. Eine Übersicht findet sich ebenfalls bei Wikipedia: Der Soziologe Rüdiger Lautmann etwa deutet den Erlkönig nicht als pädophilen Mann, sondern als Vergewaltiger. Demgegenüber sieht die Psychoanalytikerin Luise Reddemann in dem Gedicht den Alptraum eines Opfers sexueller Gewalt, das den Täter in zwei Personen zerlegt: den Vater als „guten Vater“ und den Erlkönig als „bösen Vater“. Dass der Täter in Gestalt des „guten Vaters“ dem Opfer einrede, es bilde sich die Tat nur ein, sei typisch für das Verhalten von Tätern aus dem Nahbereich von Kindern.
Zu guter Letzt unterstreichen die zahlreichen Parodien die ungebrochene Popularität der Ballade. Die bekannteste ist sicher die von Heinz Erhardt, die auch Otto Waalkes aufgegriffen hat:

Wer reitet so spät durch Wind und Nacht?
Es ist der Vater. Es ist gleich acht.
Im Arm den Knaben er wohl hält,
er hält ihn warm, denn er ist erkält’.
Halb drei, halb fünf. Es wird schon hell.
Noch immer reitet der Vater schnell.
Erreicht den Hof mit Müh und Not…
Der Knabe lebt, das Pferd ist tot!

Es gibt unzählige weitere Verballhornungen, darunter etliche auf bestimmte Berufsgruppen. Hinzu kommen Vertonungen von Franz Schubert und Carl Loewe bis hin zu Achim Reichel oder Rammstein.

Henning Voß

Literatur:
Johann Wolfgang Goethe. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Erster Band. Gedichte. Bertelsmann 1955
Johann Wolfgang Goethe. Werke. Band I. Insel Verlag. Sechste Auflage 1989
Ursula Homann: Goethe und die Religion auf www.ursulahomann.de
Richard Friedenthal: Goethe. Sein Leben und seine Zeit.
www.literaturwelt.com
Wikipedia