Odysseus bei den Sirenen

Nach der Odyssee, 12. Gesang, Zeilen 39-55 und 158-201: Auf seiner Irrfahrt durch das Mittelmeer passiert das Schiff des Odysseus die Insel der Sirenen. Diese locken durch ihren „holden“ bzw. „süßen“ Gesang die vorbeifahrenden Seeleute ins Verderben.
Die Zauberin Circe hat Odysseus vorher gewarnt und ihm geraten, wie er und seine Männer ihnen entgehen können. Vor der Passage der Insel stopft er seinen Männern Bienenwachs in die Ohren, er selbst lässt sich an den Mast fesseln. Seine unbezwingbare Neugier treibt ihn dazu, den Gesang der auf einer Blumenwiese sitzenden zwei Sirenen zu hören. Auf sein Betteln und Flehen, ihn während des betörenden Gesangs loszubinden, reagieren seine Männer wie vorher abgesprochen nur dadurch, dass sie ihn noch fester fesseln. Eiligst rudern sie an der Insel der Sirenen vorbei und entkommen so der tödlichen Gefahr.

Schon länger interessiere ich mich für die o. g. bekannte Szene und deren Umsetzung in Zinn. Vor einigen Jahrzehnten hatte der Herausgeber Alfred Retter sich des Themas angenommen und die Sirenen als musizierende bzw. singende schöne Damen herausgegeben. Dazu ein großer Felsen im Meer, und als kleine Figurengruppe den Odysseus, der von einem Gefährten an den Mast gefesselt wird, sowie ein großes Segelschiff mit Ruderern und Steuermann. Die Figurengruppe mit Odysseus konnte in den Mast dieses Schiffes eingelötet werden. Alle Figuren gibt es jetzt bei Herrn Wilfried Dangelmaier, der seinerzeit die Retter-Figuren übernommen hatte. Allerdings ist seit längerem die Form des Schiffes defekt, so dass es leider nicht mehr lieferbar ist. So entschied ich mich für eine eigene Kreation. Meine Vignette hatte ich aus Platzgründen, sie steht in einer Vitrine, ziemlich klein angefertigt, etwa 20 x 10 cm in der Fläche. Die Höhe des Faches in der Vitrine beschränkt die Mastenhöhe.

Die Sichtung von Abbildungen in Büchern und im Internet ergab, dass sich seit der Antike bis heute sehr viele Künstler des offenbar faszinierenden Themas angenommen haben. Insbesondere die Sirenen, mystische Wesen aus der griechischen Sage mit ungeklärter, aber wohl göttlicher Herkunft, regten ihre Phantasie an und boten Anlass für phantasievolle Darstellungen. Dies gilt auch für den gefesselten, sich heftig windenden Odysseus, der in dieser Pose ein wenig an den leidenden Jesus Christus am Kreuz erinnert. Die auf den frühesten Abbildungen, z. B. auf einer berühmten Vase im Britischen Museum [hier], als Fabelwesen mit Vogelkörpern und Menschenköpfen dargestellten Sirenen mutierten im Laufe der Jahrhunderte, aber bereits in der Antike, zu nackten Mädchen, teilweise aber noch als „Engel“ mit Flügeln oder als Wassernixen. Im Jahr 1891 stellte der britische Maler John William Waterhouse auf seinem Gemälde „Ulysses and the sirens“ [hier] die Sirenen entgegen dem allgemeinen Trend wieder als Vogelwesen mit menschlichen Köpfen dar. Als ursprüngliche Vogelmischwesen stehen sie in einer Reihe mit anderen Kreaturen aus der Antike wie Zentauren, Satyrn, Chimären, Greifen usw. Die Verführung beschränkte sich später nach ihrer „Menschwerdung“ dann offensichtlich nicht mehr nur auf den betörenden Gesang und der Weitergabe von Erkenntnis („dann ging er von hinnen, vergnügt und weiser als vormals“). Armin Wolf schreibt in seinem empfehlenswerten Buch „Homers Reise“, dass bereits in der Antike vermutet wurde, dass es sich bei den Sirenen in Wahrheit um Prostituierte gehandelt haben könnte. Armin Wolf selbst stellt im Buch die Hypothese auf, dass es sich um schöne Frauen gehandelt haben könnte, die die Seeleute auf sich aufmerksam machten und im schwierigen Gewässer bei ihrer Navigation ablenkten. Wenn das Schiff dann auf eine Untiefe aufgelaufen war, kamen die Männer, erschlugen die Seeleute und erbeuteten die Ladung. Diese „Methode“ des Strandraubs wurde früher ja auch mit falsch platzierten Feuern auf Landmarken praktiziert. Die sterblichen Überreste der armen Seeleute lagen für alle sichtbar neben den Sirenen auf ihrer Blumenwiese, auf der sie saßen und sangen. So berichtet es jedenfalls die Odyssee. Lediglich Odysseus und der Sänger Orpheus, der mit den Argonauten unterwegs war, konnten ihnen entgehen, letzterer mit Hilfe seiner Leier, die erfolgreich den Gesang übertönte. Der Sage nach kamen die Sirenen selbst später durch Selbstmord um.

Soviel also zu der Szenerie, jetzt also zu meiner zinnfigürlichen Umsetzung: Ich erinnerte mich des Artikels in der Zinnfigur 10/2016 von Herrn Gerhard Mönninghoff über seine neu herausgegebenen BA-Seelenvögel. Kurz entschlossen bestellte ich mir die Figuren. Ich bemalte sie dann entsprechend, als große schwarzbraune Vögel mit menschlichen Köpfen, nach dem Gemälde von Waterhouse. Homer hatte in der Odyssee nur zwei Sirenen erwähnt, aber um die Vignette lebendiger zu gestalten, stellte ich insgesamt sechs Sirenen auf, ebenfalls wieder nach Vorlage des Gemäldes. Das Schiff und die Besatzung bildete ich ansonsten bewusst nach dem oben erwähnten Vasenbild ab. Ich bin kein Schiffsmodellbauer, daher musste ich einige Versuche starten, bis ich mit meinem Schiffchen zufrieden war. Letztlich nahm ich eine Sperrholzplatte und sägte mir eine Schiffsform aus. Durch Anschleifen konnte ich die Rundungen an Bug und Heck formen. Das Heck ersetzte ich später durch eine steilere Form, das gelang durch Anleimen und Ausgleichen der Schnittstelle mit Acrylpaste und anschließender Bearbeitung durch Schleifpapier. Das Schiff wurde dann auf eine Grundplatte aus dem gleichen Sperrholz geleimt und mit Acrylfarbe bemalt. Die Besatzung besteht aus antiken Ruderern, die man im Flohmarkt bei den Berliner Zinnfiguren kaufen kann. Der Steuermann am Heck ist eigentlich ein Germane, der eine abgekniffene Lanze hält. Vorne ist noch ein Ausguck, der ursprünglich ein Karibikindianer war. Eine Herausforderung war der Einbau der Figurengruppe um Odysseus. Ich leimte sie auf einen genau abgemessenen, dann abgeschnittenen Weinkorken aus Kunststoff. Ein Stöckchen, das normalerweise eine Topfblume stützen soll, wurde abgesägt und dient jetzt als Mastoberteil. Mit Sekundenkleber hatte ich es stabil auf das Stück Mast von der Zinnfigurengruppe geklebt. Dann habe ich die Klebestelle ganz leicht angeschliffen und mit feiner Acrylpaste überzogen. Von hinten, nicht sichtbar, wurde mit Sekundenkleber ein zweites Stöckchen zur Stabilisierung der Konstruktion angeklebt. Als Rah nahm ich ein Bambusstöckchen aus einer Bambusunterlegmatte. Hier waren passenderweise in genauen Abständen schon sehr dünne Zwirnsfadenwicklungen dran. Es ließ sich problemlos biegen und mit Sekundenkleber an den Mast kleben. Auch über das aufgerollte Segel an der Rah machte ich mir Gedanken. Ein ganz dünnes gerolltes Papiertüchlein hatte ich schon mit Acryllasur braun eingefärbt, dann kam mir ein besserer Gedanke, als ich mir in der Küche einen Kaffee aufsetzen wollte. Der Kaffeefilter hatte genau die richtige Farbe und Struktur für das Segel! Er wurde daraufhin mit dem Bastelmesser in Form gebracht und teilweise mit gerade streichfähiger, nicht zu nasser Acrylfarbe bestrichen, um die Wölbung des Segeltuches anzudeuten. Aus den alltäglichsten Sachen kann man kostenloses Bastelmaterial machen, man muss nur seine Phantasie walten lassen (siehe dazu auch meinen Artikel über die Belagerung einer Stadt durch assyrischen Truppen in der Zinnfigur vom Jan/Feb 2016). Jetzt fehlten noch die Felsen und die Blumenwiese. In der Küche hatten wir alte Korkuntersetzer aussortiert und sie sollten eigentlich als Feuerholz im Winter ihr Ende finden. Aber: Mit dem Bastelmesser bearbeitet und zusammengeleimt ergeben Korkstücke wunderbare Felsen. Praktisch war auch, dass die benötigten glatten Oberflächen zum Ankleben und für die Blumenwiese bei den Korkuntersetzern schon vorhanden waren. Mit Acrylpaste kann man die Meereswellen formen, die sich an den Felsen brechen. Die Fußbrettchen meiner Sirenen lassen sich ebenfalls gut damit verbergen. Auch die Wasseroberfläche lässt sich mit Acrylpaste und –farbe beleben. Wenn man sie einige Male mit Firnis für Acrylfarbe überstreicht, bekommt sie einen schönen Glanz. Am Ende bestreut man die vorher mit Kleber oder Farbe bestrichene Blumenwiese mit entsprechendem Streumaterial, es nennt sich sogar „Blumenwiese“, aus dem Modelleisenbahnbereich. Die Büsche im Hintergrund bestehen aus Islandmoos, das ich vorher mit dünner Acrylfarbe eingefärbt hatte. Die Totenschädel aus Zinn, die die Blumenwiese „dekorieren“ sind erhältlich im Internet beim Antiquariat Nußbaum. Es bleibt dem Gestalter überlassen, ob er einen Hintergrund, z. B. mit einem Himmel und bergiger Landschaft, anfertigen will. Noch ein persönliches Wort zum Abschluss: Auf diesem Wege möchte ich mich bei dem ehemaligen Präsidenten der Klio Herrn Dr. Weiß für seine interessanten Anregungen und Fotos zu dem Thema „Odysseus“, die er mir in diesem Frühjahr geschickt hat, herzlich bedanken.

Literaturhinweise:
Die Odyssee, z. B. in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß, es gibt aber auch neuere Übersetzungen, oder im Internet:
http://www.gottwein.de/Grie/hom/od12de.php
Auguste Lechner: Die Abenteuer des Odysseus (Prosaschilderung der Odyssee für die Jugend)
Angus Konstam: Schätze auf dem Meeresgrund, auf Seite 48 ist die o. g. Vase detailgetreu und sehr groß abgebildet.
Armin Wolf: Homers Reise: Auf den Spuren des Odysseus, Ausgabe von 2009
Manfred Jehle: Helden, Götter und Giganten. Die Sagen des Altertums – Erbe der Menschheit, auf Seite 399 ist das Gemälde von J. W. Waterhouse abgebildet.
Diverse Ausgaben der „Zinnfigur“, in denen Sie Aufsätze von Herrn Dr. Weiß über das Thema „Troja“ und „Odysseus“ finden:
Sept/ Okt 2006, Sept/Okt 2009, Juli 2016, März 2017

Text/Photos: R. Ehlers-Maaßen